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August 2003. Es ist Sommer und es ist heiß; bei uns herrscht Aufbruchstimmung. Zum 1.September kann ich meine neue Stelle in Höxter anfangen.
Und da meldet sich etwas in mir. Trügt mich meine Wahrnehmung, ist es wahr oder doch nur Wunsch. In mir tobt ein Kampf. Manchmal spüre ich deutlich, dass ich schwanger bin und manchmal weiß ich, dass bald meine Tage kommen werden.

Jede Stunde ist es anders. Es schmeißt mich um und ich weiß nicht, ob ich meinem Gefühl trauen kann. Und wenn, welchem Gefühl soll ich trauen. Wir hätten doch so gerne ein zweites Kind. Und es ist tatsächlich wahr, ich bin schwanger, der Test ist eindeutig.

Doch sicher ist sicher, ich gehe zum Arzt und will eine offizielle Bestätigung. Und dann kann ich es sehen. Ein kleiner Punkt zeigt sich auf dem Ultraschall: „Ja, sie sind schwanger" sagt der Arzt. Aber irgendwie klingt seine Stimme seltsam. „Aber es sieht nicht gut aus. Da sind schon viele Ablösungen zu sehen, hatten sie schon Blutungen??" Nein, hatte ich noch nicht, will ich auch gar nicht. Ich will jetzt, dass das gut geht. Wir sind doch gerade so glücklich und auf Wolke 7. Nur mit halbem Ohr höre ich die Stimme des Arztes: „Sie können nichts tun, ob sie sich ins Bett legen und ruhig sind, oder ob sie die Umzugskartons packen, es ist egal. Die Natur regelt das von ganz alleine."

Es wird mir Blut abgenommen und ich soll in zwei Tagen wieder kommen.
Also hat mein Gefühl mich doch nicht getrogen. Der Kampf in mir ist tatsächlich ein Kampf um Leben und Tod.
Es ist noch immer unerträglich heiß. Mein Mann und ich planen den Umzug weiter aber die gro­ße Freude hat einen dicken dunklen Schatten bekommen. Wir informieren die Familie und treffen auf Schweigen und Trauer aber auch auf Mutmachfloskeln die uns nicht wirklich helfen.

Montag in der Umzugswoche. Morgens 8 Uhr Termin beim Arzt. Zittern und Bangen im Warte­zimmer. Ich treffe eine andere junge Frau, die ich gerne mag. Sie ist schwanger, mit Zwillingen. Das Glück strahlt aus ihr heraus. Ich sage nichts und hoffe.

 Ultraschall. Schweigen des Arztes. Schwarzweißes Gewimmel auf dem Bildschirm und dann:
„Herzlichen Glückwunsch, sie haben es geschafft. Sehen sie das kleine Herz. Es schlägt fröhlich vor sich hin. Ablösungen sind keine mehr zu sehen."
Ich bekomme ein Bild von meinem Mädchen. Es ist mir völlig klar, dass es ein Mädchen ist. „Kommen sie am Umzugstag wieder, dann sehen wir noch einmal nach und sie können in Ruhe fahren. Die Eintragungen in den Mutterpass lassen sie dann am Besten in Höxter machen, da müssen sie sich ja so oder so einen anderen Arzt suchen."

Ich gehe und nehme die Freude mit. Mein Mann und ich sind glücklich, die Umzugsvorbereitun­gen laufen besser. Unser Großer ist bei Oma und Opa. Mit 1 ½ ist er noch zu klein, um beim Umzug zu helfen.
Doch irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Im Rückblick habe ich später erkannt, dass es ein Gefühl wie Frühherbst war. Wie sich die Bäume und Pflanzen ein letztes Mal aufbäumen und versuchen dem nahenden Winter zu trotzen, so hat sich das Leben in mir aufgebäumt. Es war da, kraftvoll und klar aber mit der Gewissheit, es ist ein letzter aussichtsloser Kampf.

Am Morgen des Umzugs finde ich beim Aufstehen Blut in der Wäsche. Ich ignoriere es und emp­fange die Umzugsmänner. Während die einpacken und den Wagen beladen gehe ich zum Arzt, um noch einmal mein Mädchen zu sehen und sicher zu sein, dass es lebt. Ein seltsames Gefühl geht mit und wird auch sofort bestätigt: „Ich sehe keine Herzbewegungen mehr und die Ablösun­gen sind viel mehr als vorher. Es tut mir leid. Ihr Kind hat es doch nicht geschafft." Unter Tränen verabschiede ich mich vom Arzt. Beide hätten wir uns einen anderen Abschied gewünscht. Wir besprechen, dass ich in Höxter ins Krankenhaus gehe, sobald die Blutungen stärker werden.

Ich will nicht nach Paderborn ins Krankenhaus, was soll ich da während meine ganze Familie nach Höxter fährt.

Während die Lastwagen weitergepackt werden, sitze ich auf dem Balkon und merke, wie das Leben aus mir weicht. Ich kann nicht essen und auch nicht sprechen. Es kommt Abschiedbesuch. Ich reiße mich zusammen und lasse mir nichts anmerken. Am liebsten stehe ich aber nicht auf. Mit Gewalt will ich alles in mir halten.

Dann fahren die Umzugswagen ab. Sie werden ins Zwischenlager fahren und morgen in Höxter ankommen. Auch wir fahren. Beim Abschied von den Freunden bricht es aus mir heraus. Die Tränen laufen und mein Herz schmerzt. Alle denken, der Abschied fällt mir doch schwerer als gedacht.
Eine lange Stunde fahren wir bis Höxter. Herzlich werden wir willkommen geheißen. In letzter verzweifelter Hoffnung rufe ich bei dem Labor an, dass in den letzten Tagen ständig mein Blut untersucht hat. Und dann habe ich es auch von dort bestätigt. Die Werte sagen deutlich, dass das beginnende Leben in mir tot ist.

Ein neuer Heulkrampf bemächtigt sich meiner.
Dann packe ich meine Tasche und mein Mann fährt mit mir in Krankenhaus.
Und hier beginnt das eigentliche Drama.

Wir kommen nach Dienstschluss und müssen in den Kreissaal. Zum Untersuchungsraum muss man über den ganzen Flur. Ich höre das Stöhnen der anderen Frauen und ein Kind schreit. Neues Leben um mich herum, in mir der Tod.

Eine furchtbare Untersuchung durch eine junge Ärztin, die aber vorher alle Formalitäten erledi­gen will, mich anmeckert, dass keine Angaben im Mutterpass sind und nicht verstehen kann, dass ich noch keinen Frauenarzt in Höxter habe.
Eine andere Ärztin kommt und stellt mich nach der Untersuchung vor die Wahl ob ich heute oder morgen früh operiert werden möchte. Die letzte Hoffnung ist noch nicht erloschen. Ich entscheide mich für den frühen Morgen.

Ein Abend, eine Nacht voller Schmerzen. Die Wehen setzen ein und quälen mich sehr. Ich kann es auf dem Zimmer kaum aushalten. Meine Bettnachbarin guckt die ganze Zeit Schwachsinn im Fernsehen. Jedes Mal wenn ich zur Toilette gehe habe ich Angst, dass ich das Kind dort verliere, dass ich es nicht sehe, dass es einfach in der Kanalisation verschwindet.

Am nächsten Tag um 12 Uhr bekomme ich einen Heulanfall auf meinem Zimmer. Der frühe morgen ist vorbei, ich kann die Schmerzen nicht mehr aushalten. Auf Initiative der Schwester werde ich zum Notfall und dann doch operiert. Wenn ich gewartet hätte, wäre ich erst am Nach­mittag dran gewesen.
Alles grün. Scherze im OP. Ich habe die Uhr im Blick und beim nächsten Blick ist alles vorbei. Die Tränen fließen, ich muss weinen. Es zerreißt mir das Herz. Wo ist mein Kind? Niemand kann es mir sagen. Alle gehen weg, wenn ich frage. Ich soll erstmal schlafen. Aber ich will wissen, wo mein Kind ist. Alles ist Schweigen und in mir schreit die Verzweiflung.

Die nächsten Monate sind die Hölle. Gut, dass ich meine Familie habe. Mein Mann und mein Sohn halten mich am Leben. Ich kann mich nicht wirklich über die neue Wohnung freuen. Es kostet mich ungeheure Kraft die neue Stelle anzufangen.

Ich finde Hilfe in der Ruhe eines Klosters und in einem Paarwochenendseminar können mein Mann und ich unsere Geschichte verarbeiten. Zu Weihnachten verschicken wir Geburtsanzeigen unseres Kindes. Sie heißt Pia und wir erkennen, dass sie für uns da ist, nur nicht auf dieser Seite des Lebens.

Mit viel Hilfe und der Unterstützung von mitfühlenden Menschen können wir Pia am 17.Mai 2005 mit 39 anderen Kindern bestatten. Fast zwei Jahre nach ihrem Tod finden auch wir Frieden. Aber der Schmerz , die Lücke und die Trauer bleiben.

Pia ist unser zweites Kind. Sie gehört zu uns dazu.

Wir hoffen und beten, dass sie glücklich ist und legen sie in die Hände Gottes zurück.

 

 

 

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