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Vorinformation

Frau Elsbeth R. (Name geändert) und ich kennen uns seit über 20 Jahren. Immer wieder kamen wir bei unseren Begegnungen auch auf ihre Lebensgeschichte zu sprechen, die mich sehr interessierte.

Frau R. wiederum hat meine Arbeit für das Grabfeld und als Trauerbegleiterin von Anfang an mit großem Interesse verfolgt. Ich habe ihr unsere Internetseite gezeigt, und sie war sehr angetan davon und gerne bereit, mir dieses Interview zu geben. Dafür möchte ich mich, auch im Namen unseres Arbeitskreises, sehr herzlich bei ihr bedanken! Was sich hier liest, wie ein sehr sachlich geführtes Interview, war tatsäch­lich ein langes Gespräch, in dessen Verlauf ich auch meine Fragen stellen konnte. Um einen geschützten Rahmen für Frau R. zu gewährleisten und um die Antworten klarer hervortreten zu lassen, habe ich einige Details weggelassen, die für den Leser nicht von Bedeutung sind. Auch habe ich in der Wiedergabe die Fragen bewusst kurz formuliert, um Frau R.s Erfahrungen mit ihren Fehlgeburten gebührenden Raum zu geben.
Die Dokumentation wurde von Frau R. gegengelesen und für diese Internetseite frei­gegeben.
Das Interview wurde am 10. Juni 2009 von mir (Heike Molitor, H.M.) aufgezeichnet.

Frau R. wurde 1924 im Osten Deutschlands geboren. Nach ihrer Flucht im Frühjahr 1945 wurde sie mit ihrer Familie in Ostwestfalen ansässig.

H.M: Frau R., wie viele Kinder haben Sie zur Welt gebracht?

E.R.: Ich habe fünf Kinder, drei Söhne und die beiden Kleinen, die ich in der Schwanger­schaft
         verloren habe.

H.M: Wann haben Sie ihre Kinder verloren?

E.R: Das war, als ich die drei Söhne schon hatte. Der kleine Junge kam 1955 im dritten
         Monat und das Mädchen 1956 im fünften Monat.

H.M: Frau R., haben die Kinder bei der Geburt noch gelebt oder waren sie schon gestorben?

E.R: Sie haben gelebt und konnten deshalb von den Hebammen notgetauft werden. Das
         haben sie damals richtig feierlich gemacht im Krankenhaus. Das war ein großer Trost für
         mich.

H.M: War es damals möglich, die Kinder zu bestatten? Oder wurden sie irgendwo beigelegt?

E.R: Der kleine Johannes konnte nicht beerdigt werden, weil er zu klein für ein eige­nes
         Grab war. Aber die Totenfrau hat ihn heimlich ins Grab meiner Schwiegermut­ter getan.
         Wie sie das gemacht hat, weiß ich nicht, aber ich war ihr sehr dankbar dafür. So konnte
         ich wenigstens immer hingehen. Das wäre schrecklich gewesen, wenn ich nicht gewusst
         hätte, wo er hingekommen ist.

H.M: Wie war das mit Maria?

E.R: Maria wurde hier auf dem Friedhof beerdigt. In einem Kindergrab.

H.M: Frau R., wie erging es Ihnen nach dem Verlust Ihrer Kinder - durften Sie trau­ern, hatten
         Sie überhaupt Zeit dazu oder  mussten Sie ihre Gefühle verdrängen? Wie war das damit?

E.R: Als Maria starb, war mein Ältester ja erst so sechs, sieben Jahre alt. Ein Jahr später, 1957,
         starb mein Mann. Da musste ich funktionieren. Ich hatte keine Zeit für mich und hab wohl
         erstmal alles verdrängt. Aber es war schon schlimm, und später hatte ich dann auch oft
         Schuldgefühle. Da habe ich mich gefragt, ob  ich irgendetwas versäumt habe, ob die
         Kinder noch leben würden, wenn ich mich anders verhalten hätte. Manche Leu­te haben
         mir hinterher gesagt, ich hätte nicht so schwer heben dürfen und ich hätte mich öfter
         hinlegen und ausruhen sollen. Aber ich weiß nicht, was ich anders hätte ma­chen sollen.
         Wir haben ja gebaut, und ich musste hart arbeiten, und dann hatte ich ja auch die drei
         Kleinen. Da konnte man sich nicht schonen. Das war einfach so. Ja, ich war schon oft
         traurig. Aber es musste ja weitergehen.

H.M.: Haben Sie in der Familie oder bei Menschen in Ihrem Umfeld Beistand gefun­den?

E.R.: In der Familie eher nicht, da wurde damals nicht viel drüber geredet. Die Heb­ammen
         waren sehr verständnisvoll und dann war da eine Fürsorgerin in der Nachbar­schaft -
         die hat sich ein bisschen um mich gekümmert.

H.M: Frau R., haben Sie Ihre verstorbenen Kinder nach der Geburt sehen dürfen, hat man sie
         Ihnen gezeigt?

E.R: Ja, sie haben ja noch gelebt. Ich hab sie alle beide gesehen.

H.M: War das gut für Sie, oder wäre es im Rückblick besser gewesen, sie nicht an­zuschauen?

E.R: Doch, es war gut, sie zu sehen.

H.M: Viele Jahre hindurch, in manchen Krankenhäusern bis heute, wurde Eltern in einer
         solchen Situation von Pflegekräften und Ärzten eher abgeraten, das Kind noch einmal
         anzuschauen oder es gar in den Armen zu halten - mit dem Argument, sie wür­den dann
         nur schlimme Bilder in Erinnerung behalten. Wie denken Sie darüber?

E.R: Wissen Sie, ich kannte das ja, weil ich im Krankenhaus gearbeitet hatte, des­halb wusste
         ich, wie die Kinder im dritten und fünften Monat aussehen.
         Also ich finde, man sollte seine Kinder sehen dürfen, aber es ist wichtig, dass man damit
         nicht allein gelassen wird.
         Ich erinnere mich daran, wie meine Tochter strampelte, als ich sie im Arm hat­te. Und ich
         bin froh darüber. Und ich war ja nicht alleine, die Hebamme war dabei, bei mei­nem Sohn
         auch - und wie liebevoll sie mit ihr umgegangen sind! Als Maria dann anfing, schlecht zu
         atmen, haben sie sie mir weggenommen, aber ich konnte sie doch noch die ganze Zeit
         über sehen.

H.M: Und dann ist sie in einem Kindergrab beigesetzt worden - Gab es eine Ab­schiedsfeier?

E.R: Ja, es war ein Pfarrer dabei. Aber ich habe daran keine Erinnerung.
         Ich konnte damals nicht mitgehen, weil ich noch zu schwach war, ich hatte sehr viel Blut
         verloren, und mein Mann konnte nicht von der Arbeit weg. Mein Ältester ist mit seiner
         Tante hinter dem Sarg hergegangen. Er wollte das damals unbedingt. Das Grab gibt es
         noch. Ich gehe da auch immer noch hin, wenn ich auf dem Friedhof bin.

H.M: Hat es Ihnen damals in Ihrer Trauer irgendwie geholfen, dass Sie wussten, wo
         Ihre Kinder liegen?

E.R: Ja, das hat mich sehr getröstet. Man konnte wenigstens noch zu ihnen gehen.
         Mein Ältester lebt ja nicht mehr, aber er hat mir erzählt, dass er als Kind oft zum
         Grab seiner Schwester gegangen ist, wenn er Kummer hatte. Das hat ihm im­mer Kraft
         und Mut gegeben. Das habe ich lange Zeit gar nicht gewusst. Und als er seine
         Gesellenprüfung gemacht hatte, ist er zuerst zu ihrem Grab gegangen, bevor er nach
         Hause kam.

H.M: Vielleicht tut es Ihnen auch gut, dass dieses Grab noch da ist, da Sie ja nur sel­ten zum
         Grab Ihres Sohnes gehen können? (Frau R.s Sohn verstarb vor fünf Jahren und ist nicht
         in Höxter bestattet)

E.R: Doch, das stimmt. Kurz vor seinem Tod hat er mich noch gefragt, ob ich das Grab weiter
         pflegen würde. Das war ihm ein großes Anliegen.

H.M: Bei den Abschiedsfeiern auf dem Grabfeld werden die fehlgeborenen Kinder beim
         Namen genannt. Wir finden es sehr wesentlich, sie als kleine Persönlichkeiten zu
         würdigen, die ja real existiert haben. Erfahrungsgemäß bedeutet es den Eltern ganz viel.
         Ich könnte mir vorstellen, dass dies ähnlich bedeutsam ist, wie es die feierli­chen
         Nottaufen für Sie waren.

E.R: Ja, das denke ich auch. Ich war ja schon bei einer Abschiedsfeier auf dem Grabfeld. Das
         tut einem einfach gut! Es ist sehr schön und würdevoll, wie Sie Alle das gestalten. Und
         man ist nicht alleine damit. Ich würde gerne noch einmal dabeisein.

H.M: Sie sind jederzeit herzlich willkommen, das wissen Sie ja. Wir (der Arbeitskreis) fänden es
         schön, wenn viel mehr Frauen und Männer in Ihrem Alter, die solche Verluste erlebt
         haben, dazu kämen und das Abschiednehmen nachholten, gerade auch, wenn es
         damals vielleicht nicht möglich war, und das war ja häufig der Fall. Es täte ihnen vielleicht
         gut, wenn sie das Grabfeld auch zu ihrem Ort des Trauerns und Erinnerns ma­chen
         würden

E.R: Das kann ich nur empfehlen! Mir tut der Ort jedenfalls sehr gut. - Man sieht auch oft Leute
         auf den Bänken sitzen. Und es brennen auch fast immer Grableuchten.

H.M: Frau R., Sie haben vor zwei Jahren einen Gedenkstein mit den Namen von
         Johannes-Paul und Maria beschriftet, den wir dann zusammen am Fuße des Engels
         auf dem Grabfeld niedergelegt haben. Ich weiß, dass es Ihnen wichtig war, das zu tun.
         Würden Sie mir sagen, warum - obwohl ihre Kinder damals beerdigt werden konnten?

E.R: Das Grab von meiner Schwiegermutter ist eingeebnet, da kann ich nicht mehr hingehen.
         Und wenn ich auf den Friedhof gehe, setze ich mich auch auf dem Grabfeld auf eine Bank
         und denke an meine Kinder und, ja, man empfindet da so eine Geborgenheit ...

H.M: Was denken Sie, warum das so ist, dass man da Geborgenheit empfinden kann?

E.R: Es ist so ein Gefühl, wissen Sie - es ist das Gefühl, dass die Kinder nicht alleine sind.

H.M: Das hört sich tröstlich an ...

E.R: Ja, das ist es auch. Und man kommt mit Anderen ins Gespräch, wissen Sie. Nicht immer,
         aber ziemlich oft.

H.M: Wie oft gehen Sie denn zum Friedhof?

E.R: Wenn ich es schaffe, einmal in der Woche. Ich gehe jedes Mal auf das Grabfeld.
         Und das müssten Sie mal sehen, was da los ist. Man kriegt noch nicht einmal immer
         einen Platz auf einer Bank.

H.M: Das höre ich natürlich gern, dass so viele Menschen dort hingehen! Und Sie sagen, Sie
         unterhalten sich auch miteinander?

E.R.: Ja, das kommt wie von selbst. Es ist so eine Vertrautheit da. Meistens sind da Frauen,
         ältere und jüngere. Weniger Männer. Mit den älteren Frauen kommt man eher ins
         Gespräch. Manche sind Großmütter von Kindern auf dem Grabfeld, aber viele haben
         selbst früher Fehlgeburten gehabt.

H.M.: Und darüber tauschen Sie sich dann aus?

E.R.:  Ja, man spricht über die eigenen Erfahrungen, und das tut gut, darüber zu re­den.

H.M: Würden Sie sagen, dass diese Frauen das Grabfeld auch für sich als guten Ort der
         Erinnerung entdeckt haben?

E.R: So ist es. Der Ort ist irgendwie positiv, er lockert, er verbindet, er ist heilsam, kann man
         sagen.

H.M: Also, das freut mich wirklich sehr, es ist genau das, was wir uns wünschen!
         Denken Sie , dass die Abschiedsfeiern und das Grabfeld auch für andere ältere
         Menschen tröstlich wären?

E.R.: Auf jeden Fall!

H.M: Würden Sie anderen Frauen und Männern, die früher ihre Kinder verloren ha­ben, raten
         zu den Bestattungsfeiern zu kommen?

E.R.: Unbedingt! Nur müsste das viel mehr publik werden. Das wissen noch viel zu wenig
          Menschen in Höxter, dass es das gibt!
          Und ich finde, das, was Sie auf der Internetseite geschrieben haben, müsste es als
          Büchlein geben. Gerade die Älteren haben doch nicht alle einen Computer. Ich würde
          das gerne mal in Ruhe nachlesen - und die Bilder sind auch so schön.

H.M.: Das ist eine Idee, auf die ich gar nicht gekommen wäre - danke für den Hin­weis.
          Ich hoffe, Ihre Offenheit ermutigt viele Menschen, eben auch die älteren, die nicht wissen,
          wo ihre Kinder beerdigt wurden oder deren Gräber weit weg sind oder die ihre Kinder auf
          der Flucht verloren haben und nicht bestatten konnten, einfach mal zu einer
          Abschiedsfeier zu kommen und sich das Grabfeld anzusehen.
          Frau R., ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

E.R.: Das habe ich gern getan! Ich bin froh, dass das Alles mal gesagt wurde. Und was Sie
          da miteinander für das Grabfeld tun, finde ich ganz wichtig für die Menschen hier.

 

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